Kapitel drei
In den darauffolgenden Wochen blieb Hanma merkwürdig unsichtbar, was Moe zunächst beruhigte, aber es brachte auch eine neue Reihe von Herausforderungen mit sich. Keisuke, von der Angst getrieben, seine Schwester nicht genug zu beschützen, übertrieb es mit seinem Beschützerinstinkt auf eine Weise, die Moe zunehmend belastete.
Keisuke bestand darauf, Moe jeden Morgen zur Schule zu bringen, selbst wenn das bedeutete, dass er seinen eigenen Schulbeginn riskierte. Er wartete oft vor dem Eingang, bis Moe sicher im Gebäude war.
Nach der Schule tauchte Keisuke auf, um sie abzuholen, auch wenn Moe ihm wiederholt versichert hatte, dass sie mit Freunden nach Hause gehen würde. Einmal drängte er sich sogar in ihre Gruppe und stellte sicher, dass sie direkt nach Hause ging, was Moe vor ihren Freunden in Verlegenheit brachte.
Selbst während des Unterrichts schickte Keisuke ihr häufig Nachrichten oder rief sie in den Pausen an, um sicherzugehen, dass es ihr gut ging. Wenn sie nicht sofort antwortete, kam es vor, dass er besorgt vor ihrer Klassenzimmertür auftauchte, was Moe peinlich und genervt machte.
Moes Geduld war erschöpft. Die ständige Überwachung machte sie wütend und das führte zu einem heftigen Streit.
"Du bist schlimmer als ein Bodyguard, Keisuke! Ich kann nicht atmen, ohne dass du hinter mir stehst," schrie Moe, ihre Stimme voller Frustration.
"Ich mache mir einfach Sorgen, Moe! Weißt du überhaupt, wie gefährlich es da draußen ist?" erwiderte Keisuke, seine Stimme ebenso laut und besorgt.
"Ich weiß es, aber ich bin nicht aus Glas. Ich kann auf mich selbst aufpassen," entgegnete Moe, ihre Stimme zitterte vor Emotion.
Der Streit endete damit, dass Moe die Tür zuschlug und die beiden tagelang nicht mehr miteinander redeten. Eine eisige Mauer der Stille hatte sich zwischen ihnen aufgebaut, und keiner von beiden wusste, wie er sie durchbrechen sollte.
Seit dem Vorfall, bei dem die Zwillinge Moe nach Hause gebracht hatten, war auch ihr Verhältnis zu Moe merklich angespannt.
Nahoya und Souya kamen immer seltener zur Schule. Ihre gewohnte Energie schien gedämpft, und oft fehlten sie ohne Ankündigung. Moe vermisste ihre neckenden Bemerkungen, selbst wenn sie es sich nicht eingestand.
Wenn sie doch in der Schule waren, beschränkten sich ihre Gespräche auf das Nötigste.
"Hi, Moe," sagte Nahoya eines Morgens, als sie in die Klasse kam. Seine Stimme war neutral, fast förmlich.
"Hi," antwortete Moe knapp und senkte den Blick. Die Unbeschwertheit, die einst ihre Gespräche prägte, war verschwunden.
Nahoya beobachtete Moe oft aus dem Augenwinkel, unsicher, wie er die Distanz zwischen ihnen überbrücken sollte. Moe bemerkte es, fühlte sich aber unsicher, wie sie reagieren sollte, da die unausgesprochenen Spannungen zwischen ihnen sie beunruhigte.
Diese unausgesprochenen Spannungen hinterließen einen bleiernen Schatten über ihre Freundschaft. Moe fühlte sich einsam, sehnte sich nach der unbeschwerten Zeit zurück.
Doch dann begann Hanma, an Moes Schule aufzutauchen, oft dann, wenn sie am wenigsten damit rechnete. Es war, als würde er ihr jede Möglichkeit nehmen, sich sicher zu fühlen. Eines Nachmittags, als sie das Schulgebäude verließ und die Kawata Brüder nicht zum Unterricht erschienen, bemerkte sie ihn. Er lehnte lässig an einem Baum, seine Augen fixierten sie mit einem durchdringenden Blick.
„Hey, Moe“, rief er, als sie an ihm vorbeigehen wollte. „Ich hoffe, du passt auf dich auf.“
Seine Stimme war sanft, fast freundlich, doch die Drohung darin war nicht zu überhören. Moe hielt inne, versuchte, die Angst in ihrer Stimme zu verbergen.
„Ich... ich komme gut zurecht“, antwortete sie zögerlich.
Hanma nickte langsam, sein Lächeln war unheilvoll. „Gut, denn Unfälle passieren schneller, als man denkt. Besonders, wenn dein Bruder nicht das tut, was er soll.“
Hanma fand immer wieder Wege, Moe an die Bedrohung zu erinnern, ohne direkt gewalttätig zu werden. Ob es nun ein beiläufiges Wort oder ein vielsagender Blick war, er verstand es, sie ständig an die Gefahr zu erinnern, in der sie schwebte. Moe fühlte sich gefangen, als ob sie ständig auf Eierschalen gehen würde, um die Bedrohung nicht zu aktivieren.
Eines Nachmittags, als Moe sich auf den Heimweg machte, trat Hanma plötzlich aus einer Seitengasse heraus und blockierte ihren Weg. Er war allein, und sein Gesichtsausdruck war eine Mischung aus Neugier und düsterem Vergnügen.
„Wir treffen uns ja öfter, als gedacht“, sagte er mit einem amüsierten Grinsen.
Moe trat einen Schritt zurück, die Panik in ihr aufsteigend. „Was willst du, Hanma?“, fragte sie, versuchte ihre Stimme fest zu halten.
Hanma legte den Kopf schief, als würde er überlegen. „Ich will nur sicherstellen, dass du verstehst, dass du nicht allein bist. Du hast meine volle Aufmerksamkeit.“
Er trat näher, und Moe wich zurück. Die Situation fühlte sich surreal an, als wäre sie in einen Albtraum gefangen.
„Keine Sorge“, sagte Hanma, bevor er sich umdrehte und ging. „Ich werde dir nichts tun... solange alles nach Plan läuft.“
Über Wochen hinweg baute Hanma kontinuierlich Druck auf Moe auf. Er störte ihre tägliche Routine, tauchte an unerwarteten Orten auf und ließ sie nie zur Ruhe kommen. Moe begann, immer über ihre Schulter zu blicken, aus Angst, dass er plötzlich auftauchen könnte.
Die ständige Angst zerrte an ihren Nerven, und sie merkte, dass sie sich immer mehr von ihren Freunden zurückzog. Die Veränderung blieb auch Nahoya und Souya nicht verborgen. Moe war nicht mehr die spritzige und humorvolle Schülerin, die sie gekannt hatten. Ihre Witze wurden seltener, und ihr Lachen klang nicht mehr so unbeschwert wie zuvor.
Trotz der Bedrohung und der zunehmenden Angst entschied sich Moe, ihren Bruder Keisuke und die Zwillinge aus der Sache herauszuhalten. Sie glaubte, stark genug zu sein, um dem Stand zu halten, und wollte die beiden nicht in Gefahr bringen. Moe war fest entschlossen, sich alleine um das Problem zu kümmern.
Doch mit jedem Tag, der verging, wurde die Belastung schwerer zu tragen. Schließlich fand Keisuke sie eines Abends völlig in Tränen aufgelöst vor. Die Sorge in seinem Gesicht brach Moes letzte Schutzmauer, und sie erzählte ihm alles.
Als Keisuke erfuhr, dass Hanma Moe bedrohte, war seine erste Reaktion eine Mischung aus Wut und Besorgnis. Er sah rot und war fest entschlossen, Moe zu beschützen, egal was es kostete. Die Tatsache, dass sie so lange alleine damit umgegangen ist, verstärkte seinen Drang, sie nun umso mehr zu beschützen.
Keisuke war hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, sofort gegen Hanma vorzugehen, und der Sorge, dass ein direkter Konflikt Moe noch mehr in Gefahr bringen könnte. Er verbrachte schlaflose Nächte damit, über seine Möglichkeiten nachzudenken und nach einer Lösung zu suchen, die Moe Sicherheit bietet, ohne sie weiter in den Konflikt hineinzuziehen.
Nach reiflicher Überlegung entschied sich Keisuke, einen riskanten Schritt zu wagen: Er wollte sich Valhalla anschließen. Für ihn war es die einzige Möglichkeit, Moe vor weiteren Gefahren zu bewahren und gleichzeitig einen Einblick in die Organisation zu bekommen. Keisuke glaubte, dass er Valhalla ausspionieren und Toman dadurch helfen könnte, indem er wertvolle Informationen lieferte.
Keisuke rechtfertigte seine Entscheidung damit, dass es nicht nur um Moes Sicherheit ginge, sondern auch darum, die Bedrohung durch Hanma und Valhalla für alle zu beenden. In seiner Vorstellung wird er zum stillen Helden, der das Risiko auf sich nimmt, um die Menschen, die ihm wichtig sind, zu schützen.
Als Keisuke Moe von seinem Plan erzählte, war sie zunächst schockiert und besorgt. Sie hatte Angst, dass er sich in eine Gefahrensituation bringt, aus der es kein Zurück mehr gibt. Moe versuchte, ihn davon abzubringen, doch Keisuke bliebt fest entschlossen.
„Ich mache das für dich“, sagte Keisuke mit fester Stimme. „Ich werde alles tun, um dich zu beschützen. Vertraue mir, Moe.“
Moe sah den unerschütterlichen Entschluss in seinen Augen und erkannte, dass sie ihn nicht umstimmen konnte. Widerwillig stimmte sie zu, ihm zu vertrauen, auch wenn die Angst um ihren Bruder sie nicht losließ.
Es war ein kühler Oktobermorgen, als Moe die Schule erreichte und am Eingangstor auf die Kawata-Zwillinge stieß. Ihre Augen wirkten gereizt, und Moe konnte schon spüren, dass eine Auseinandersetzung bevorstand. Sie versuchte, sie knapp zu begrüßen und wollte weitergehen, aber Nahoya stellte sich ihr in den Weg.
"Was um alles in der Welt ist in deinen Bruder gefahren?" fragte Nahoya scharf, seine Stimme vor Wut bebend.
Moe hielt inne und blickte ihn fragend an. "Wovon redest du?"
"Er hat Toman verlassen und ist zu Valhalla übergelaufen!" sagte Souya, seine Stirn in tiefen Falten vor Sorge und Enttäuschung.
Moe war überrascht, dass Keisuke es tatsächlich getan hatte. Für einen Moment fühlte sie sich verraten, dass ihr Bruder seine Freunde im Stich gelassen hatte. Die Tränen drängten hinter ihren Augen, doch sie hielt sie zurück und antwortete kühl: "Das weiß ich nicht genau. Ich hab doch von eurer Gang-Scheiße keine Ahnung."
"Du weißt nicht genau?" Nahoya fauchte zurück, sein Gesicht vor Unverständnis verzogen. "Keisuke tut so etwas nicht ohne Grund! Was hat er dir gesagt?"
Moe ballte die Hände zu Fäusten. "Er hat mir nichts gesagt, okay? Ich hab selbst keine Ahnung, warum er so einen Blödsinn macht."
"Das ist doch nicht normal!" warf Souya ein, seine Stimme erhoben. "Keisuke ist nicht der Typ, der seine Freunde einfach so verrät."
"Vielleicht wollt ihr das einfach nicht sehen," entgegnete Moe scharf, die Emotionen überwältigten sie langsam. "Vielleicht habt ihr keine Ahnung, was er durchmacht."
"Und du vielleicht schon?" fragte Nahoya herausfordernd.
Moe schwieg, unfähig zu antworten. Sie wollte ihren Bruder verteidigen, aber wusste nicht wie, ohne die Wahrheit zu offenbaren. Stattdessen schoss sie zurück: "Wenn er sich so entschieden hat, dann müsst ihr das akzeptieren. Vielleicht ist Toman nicht alles, was zählt."
"Vielleicht sind wir nicht alles, was zählt," wiederholte Souya Moes Worte nachdenklich, sein Ton ruhiger, aber immer noch enttäuscht.
Eine schwere Stille breitete sich aus. Moe fühlte die Distanz zwischen sich und den Zwillingen wachsen, und sie wusste nicht, wie sie die Kluft überbrücken konnte. Schließlich sprach sie mit zitternder Stimme: "Keisuke wird seine Gründe haben. Lasst ihm Zeit. Mehr kann ich nicht sagen."
"Zeit?" Nahoya wiederholte das Wort mit einer Bitterkeit in der Stimme. "Wie viel Zeit denkst du, haben wir?"
Moe drehte sich um und ging zur Schule. Die Worte der Zwillinge hallten in ihrem Kopf wider. Sie wusste, dass die Beziehung zu ihnen beschädigt war, und das schmerzte sie mehr, als sie zugeben wollte. Keisukes Entscheidung, die sie zu schützen versucht hatte, fühlte sich plötzlich wie eine schwere Last an, die sie allein tragen musste.