Kapitel zwei
Die Morgensonne schien hell über die Straßen von Tokyo, als Moe und Keisuke ihr Wohnhaus verließen, bereit für einen weiteren Schultag. Moe trug ihre Schuluniform, die Haare locker zu einem Zopf gebunden, während Keisuke mit seinem üblichen, leicht mürrischen Gesichtsausdruck daneben ging.
"Beeil dich, Keisuke, sonst kommst du schon wieder zu spät," rief Moe, als sie den Gehweg entlang gingen. Keisuke gähnte und streckte sich, versuchte, den Schlaf aus seinen Augen zu vertreiben.
"Ja, ja, ich komm ja schon," murrte er, den Rucksack lässig über die Schulter geworfen.
Unbemerkt von den Geschwistern standen Hanma und Kazutora in einer kleinen Seitengasse in der Nähe, versteckt im Schatten eines Gebäudes. Kazutora lehnte sich gegen eine Mauer, die Hände tief in den Taschen vergraben, während er Hanma neugierig ansah. "Wieso wolltest du wissen, wo Keisuke wohnt, und warum verstecken wir uns hier wie kleine Weicheier?" fragte er, seine Stimme ein Hauch von Ungeduld.
Hanma stand lässig da, ein fast gelangweiltes Lächeln auf seinem Gesicht, während er die Umgebung beobachtete. "Ich bin nicht seinetwegen hier," sagte er schließlich, sein Blick auf die Geschwister gerichtet.
Kazutora runzelte die Stirn und folgte Hanmas Blick. "Sondern?" fragte er, nun wirklich interessiert.
Hanma nickte in Richtung von Moe. "Ihretwegen," antwortete er, sein Lächeln breiter werdend.
Kazutora schnaubte überrascht. "Meinst du damit Moe?" fragte er ungläubig.
Hanma nickte langsam, die Augen immer noch auf das Fenster gerichtet. "Wie stehen die beiden zusammen?" fragte er, ohne den Blick abzuwenden.
"Moe ist Keisukes ältere Schwester und er würde alles für sie tun" antwortete Kazutora, immer noch verwirrt, aber auch neugierig.
Hanma verzog die Lippen zu einem listigen Lächeln. "Die beiden stehen sich ziemlich nah, oder?" fragte er weiter, seine Stimme glatt wie Seide.
"Richtig," bestätigte Kazutora zögernd. "Aber wieso interessiert sie dich denn so? Sag nicht, du bist in sie verknallt?"
Hanma lachte leise und schüttelte den Kopf. "Quatsch. Ich kann sie nur gut gebrauchen," sagte er mit einem hinterhältigen Grinsen.
Kazutora betrachtete ihn skeptisch. "Du willst doch, dass Keisuke uns beitritt, oder?" fragte ihn Hanma, die Stirn runzelnd.
Kazutora nickte langsam, sein Blick scharf und berechnend. "Genau. Wenn wir ihn dazu bringen wollen, sich uns anzuschließen, müssen wir seine Schwachstelle finden. Und ich glaube, Moe könnte genau das sein."
Kazutora nickte, die Zusammenhänge erkennend. Er wusste, dass Hanma nichts dem Zufall überließ und dass er immer einen Plan hatte. Obwohl er sich unwohl fühlte bei dem Gedanken, Moe in ihre Machenschaften zu verwickeln, wusste er auch, dass Hanma normalerweise wusste, was er tat.
"Also, was ist der Plan?" fragte Kazutora leise.
Hanma verzog die Lippen zu einem dunklen Grinsen. "Wir lassen sie wissen, dass wir da sind. Wir zeigen Keisuke, dass wir sie im Auge haben. Das wird ihn dazu bringen, darüber nachzudenken, wo seine Prioritäten liegen. Und dann wird er gar keine andere Wahl haben, als zu uns zu kommen."
"Da sind sie," murmelte Hanma, als die Geschwister näher kamen. "Der perfekte Zeitpunkt, um ihnen unsere Anwesenheit zu zeigen. Bleib hier und warte. "
Gerade als Moe und Keisuke auf Höhe der Gasse waren, trat Hanma aus dem Schatten, sein Lächeln charmant und doch bedrohlich. "Guten Morgen, Moe," sagte er in einem freundlichen Ton, der eine subtile Gefahr in sich trug.
Moe erstarrte, überrascht, Hanma hier zu sehen. Keisuke hingegen war sofort in Alarmbereitschaft, seine Augen verengten sich, als er Hanma erkannte.
"Was hast du vor?" fragte Keisuke scharf und zog seine Schwester schützend in den Arm.
Hanma hob die Hände, als ob er Frieden anbieten wollte. "Nur ein kleines Gespräch," sagte er gelassen. "Ich wollte nur sicherstellen, dass es euch gut geht."
Moe fühlte sich unwohl unter Hanmas intensiver Beobachtung, ein Schauer lief ihr über den Rücken. Sie erinnerte sich an die gestrige Begegnung und spürte, wie sich ihre Angst verstärkte.
Keisuke knirschte mit den Zähnen, seine Hände zu Fäusten geballt.
Hanma lächelte nur, seine Augen auf Moe gerichtet. "Mach dir keine Sorgen, Keisuke. Ich will nur sichergehen, dass du weißt, dass ich da bin. Und dass ich immer ein Auge auf dich habe," sagte er mit einem zwinkernden Blick in Richtung Moe.
Keisuke spürte die versteckte Drohung in Hanmas Worten und wusste, dass es ernst war. "Komm, Moe, wir gehen," sagte er schließlich, seine Stimme bestimmt.
Moe war froh, sich von Hanmas Anwesenheit entfernen zu können, und folgte ihrem Bruder schnell die Straße hinunter. Doch die Begegnung hinterließ ein unbehagliches Gefühl, das nicht so leicht zu ignorieren war.
Als sie außer Sichtweite waren, wendete sich Kazutora zu Hanma. "Glaubst du, das wird funktionieren?" fragte er skeptisch.
Hanma lächelte selbstsicher. "Ohja, das wird es. Wir haben Keisukes Aufmerksamkeit. Und das ist der erste Schritt, um ihn dahin zu bringen, wo wir ihn haben wollen," antwortete er, die Augen noch immer auf die Straße gerichtet, auf der die Geschwister verschwunden waren.
Keisuke hatte heute einen ungewöhnlichen Entschluss gefasst: Er würde seine Schwester bis zu ihrer Schule begleiten. Dies war ein seltenes Ereignis, denn normalerweise gingen sie getrennte Wege. Moe war überrascht und neugierig, wollte jedoch nichts anmerken lassen.
"Du musst mich nicht begleiten, weißt du," sagte Moe, während sie nebeneinander die Straße entlang gingen.
"Nach der Begegnung gerade eben gehe ich lieber auf Nummer Sicher," antwortete Keisuke ernst, seine Augen unter der finsteren Stirn kraus gezogen.
"Du weißt, dass ich auf mich aufpassen kann," erwiderte Moe, obwohl ihr Herz immer noch schneller schlug, wenn sie an Hanmas Lächeln dachte.
Keisuke atmete tief aus. "Es geht nicht darum, ob du auf dich aufpassen kannst. Ich möchte einfach sicherstellen, dass du in Sicherheit bist. Dieser Hanma ist kein Witz."
Trotz Keisukes beruhigenden Worten fiel es Moe schwer, sich während des Unterrichts zu konzentrieren. Ihre Gedanken schweiften immer wieder zu Hanma ab, seine bedrohliche Präsenz war wie ein Schatten, der sie nicht loslassen wollte. Sie fragte sich, ob sie Nahoya und Souya alles erzählen sollte, doch der Gedanke, die beiden mit hineinzuziehen, war ihr unangenehm. Sie wollte niemanden in Gefahr bringen.
Als die Zwillinge schließlich mit reichlich Verspätung zur Schule kamen, warf Nahoya Moe einen besorgten Blick zu. Moe schluckte nervös. Hatte Keisuke ihnen etwas erzählt? Der Gedanke machte sie unruhig.
Nach dem Unterricht sprachen die Zwillinge sie direkt an.
"Sag mal Moe, warum schreibt uns dein Bruder eine so seltsame Nachricht?" fragte Nahoya sie neugierig.
Moe versuchte, ahnungslos zu wirken. "Wovon redet ihr?"
Souya hielt sein Handy hoch. "Er hat geschrieben, ob wir dich nach Hause begleiten können, wenn die Schule vorbei ist, weil er keine Zeit hat."
Moe lachte nervös. "Ich habe keine Ahnung, warum er das gemacht hat."
Die Zwillinge tauschten einen besorgten Blick aus.
"Eigentlich wollten wir heute gar nicht zur Schule kommen. Aber nach der Nachricht konnten wir nicht anders," sagte Nahoya ärgerlich, seine Stimme etwas lauter als beabsichtigt.
Moe spürte, wie sich eine Welle der Frustration in ihr aufbaute. "Das klingt so, als wärt ihr nur meinetwegen hier," entgegnete sie verärgert und verschränkte die Arme vor der Brust.
Nahoya hob eine Augenbraue und verschränkte ebenfalls die Arme. "Vielleicht sind wir das auch. Ist das so schlimm?"
Moe war überrascht von der Ehrlichkeit in seinen Worten. "Es ist nur... unnötig," stotterte sie, unsicher, wie sie fortfahren sollte.
Nahoya schnaubte. "Unnötig? Dein Bruder hat uns gebeten, auf dich aufzupassen, und du tust so, als wären wir Eindringlinge."
"Ich kann auf mich selbst aufpassen," beharrte Moe, ihre Stimme angespannt.
"Ach ja?" Nahoya trat einen Schritt näher, seine Augen fixierten sie. "Dann erklär mir, warum du so nervös bist."
Moe wich seinem Blick aus und fühlte sich ertappt. "Das ist nicht eure Angelegenheit," murmelte sie, wobei sie ihre Unsicherheit hinter einer Fassade aus Trotz versteckte.
Souya, der bisher still zugehört hatte, versuchte zu vermitteln. "Moe, wir machen uns einfach Sorgen. Wenn etwas nicht stimmt, sag es uns."
"Es gibt nichts zu sagen!" Moe fühlte sich in die Enge getrieben und von der Sorge der Zwillinge überfordert.
Der Streit heizte sich weiter auf, Worte flogen hin und her, beide Seiten gleich stur. Schließlich schnaubte Moe entnervt.
"Mir reicht's," sagte sie schließlich, abrupt aufstehend. Ihre Stimme war leise, aber eindringlich. Ohne ein weiteres Wort verließ sie den Raum und verschwand auf der Mädchentoilette, um sich zu sammeln und ihre Gedanken zu ordnen. Nahoya und Souya blickten ihr verblüfft nach, unfähig, die Spannung zwischen ihnen zu lösen.
Im Spiegel betrachtete Moe ihr eigenes Spiegelbild, ihre Emotionen spiegelten sich in ihren Augen wider. Sie wusste, dass die Zwillinge aus Sorge handelten, aber die Erinnerung an Hanma lastete schwer auf ihr und machte es schwierig, ihre innere Fassade aufrechtzuerhalten. Sie atmete tief durch und versuchte, ihre Gedanken zu beruhigen, bevor sie sich entschied, wie sie weiter vorgehen würde.
Trotz der vorangegangenen Auseinandersetzung begleiteten die Zwillinge Moe schweigend nach Hause. Moe fühlte sich hin- und hergerissen zwischen ihrer Angst vor Hanma und dem Wunsch, die beiden nicht mit hineinzuziehen.
"Also echt, ihr müsst das nicht machen," sagte Moe schließlich, peinlich berührt.
Souya schüttelte den Kopf. "Keisuke hatte bestimmt einen Grund. Deswegen können wir ihn nicht ignorieren."
In stillem Einverständnis gingen sie weiter.
An ihrer Haustür angekommen, verabschiedeten sich Nahoya und Souya von Moe.
"Also dann, bis morgen."
Moe nickte, bevor sie durch die Tür verschwand. Doch sie wusste, dass die Zwillinge ihre Fassade durchschaut hatten.
Nahoya sah Moe nach, seine Stirn sorgenvoll gerunzelt. "Da stimmt doch was gewaltig nicht."
Souya nickte. "Stimmt schon. Aber solange uns niemand was erzählt, können wir nichts weiter tun."
Dennoch nagte die Sorge um Moe an Nahoya. Trotz ihrer Streitereien fühlte er sich für sie verantwortlich und wollte nicht tatenlos zusehen. Er wusste, dass er einen Weg finden musste, Moe zu helfen, ohne sie noch mehr unter Druck zu setzen.