Kapitel vier
Nachdem Hanma sich von Moe fern hielt und einige Tage vergingen, begann Moe sich zu entspannen. Die Anspannung, die sie in den letzten Wochen begleitet hatte, ließ nach, und sie konnte wieder etwas freier atmen. Eines Abends, als Keisuke und Moe alleine zu Hause waren, entschied Moe, die Gelegenheit zu nutzen, um sich bei ihrem Bruder zu entschuldigen und ihm zu danken.
Moe saß auf der Couch und sah Keisuke an, der gerade aus der Küche kam, ein Glas Wasser in der Hand. Sie holte tief Luft und begann: "Keisuke, ich... ich wollte mich bei dir entschuldigen."
Keisuke blickte überrascht auf. "Wofür denn?"
"Für alles," sagte Moe, ihre Stimme leise und zögerlich. "Für die Streitereien, dafür, dass ich dir nicht alles erzählt habe... und für die Gefahr, in die ich dich gebracht habe."
Keisuke setzte sich neben sie, sein Gesicht ernst, aber liebevoll. "Moe, du musst dich nicht entschuldigen. Ich bin dein Bruder. Es ist meine Aufgabe, dich zu beschützen."
"Ja, aber ich habe es dir nicht leicht gemacht," sagte Moe, ihre Augen voller Reue. "Ich war so stur. Und ich weiß, dass es nicht einfach war, Valhalla beizutreten. Das hast du nur wegen mir gemacht, nicht wahr?"
Keisuke lächelte schwach und legte einen Arm um ihre Schultern. "Natürlich habe ich es wegen dir gemacht. Und es war die richtige Entscheidung. Du bedeutest mir alles."
Moe lehnte sich an ihn und fühlte eine Welle der Erleichterung und Dankbarkeit über sich hinwegspülen. "Danke, Keisuke. Ich bin froh, dass wir wieder normal miteinander reden können."
Einige Tage später, als Moe schon in ihrem Bett lag und versuchte, zur Ruhe zu kommen, hörte sie die Tür zu ihrem Zimmer leise knarren. Keisuke stand in der Tür, seine Silhouette schwach im Mondlicht zu erkennen.
"Kann ich bei dir schlafen?" fragte er, seine Stimme war ungewöhnlich leise und verletzlich.
Moe war überrascht, rückte aber ohne zu zögern zur Seite. "Klar, komm rein."
Keisuke legte sich neben sie und Moe konnte die Anspannung in seinen Schultern spüren. Sie fragte nicht, was los war; manchmal war Stille besser als Worte. Stattdessen genoss sie einfach die Wärme und Vertrautheit, die ihre Beziehung ausmachte.
Am nächsten Morgen wachte Nahoya mit einem seltsamen Gefühl auf. Sein Handy zeigte eine Nachricht von Keisuke:
"Pass bitte auf Moe auf."
Nahoya runzelte die Stirn, dachte sich jedoch nichts dabei. Keisuke war in letzter Zeit etwas seltsam gewesen, aber dass er Moe beschützen wollte, war keine Neuigkeit. Nahoya murmelte zu sich selbst: "Das musst du mir nicht extra noch sagen," und schob das Handy zur Seite.
Moe half ihrer Mutter, das Abendessen vorzubereiten, als plötzlich das Telefon klingelte. Ihr Vater legte die Zeitung beiseite, erhob sich vom Sofa und nahm das Gespräch entgegen.
"Ja, mit dem sprechen Sie," sagte er, und dann folgte eine Pause. "Alles klar, wir kommen sofort vorbei."
Er legte auf, und seine Miene war ernst. "Das war das Krankenhaus. Wir sollen sofort hinfahren. Es geht um Keisuke."
Moe wurde von einem schrecklichen Gefühl erfasst, doch sie zog sich sofort die Schuhe an. Ihre Mutter fragte besorgt: "Was ist mit ihm?"
"Das weiß ich nicht," antwortete der Vater. "Sie sagten nur, es sei dringend."
Ohne ein weiteres Wort verließ die Familie eilig das Haus und fuhr schweigend zum Krankenhaus.
Im Krankenhaus angekommen, eilte der Vater direkt zum Empfang. Nach einem kurzen Gespräch mit der Empfangsdame kehrte er zu seiner Familie zurück. "Ein Arzt wird sich gleich bei uns melden," sagte er mit leiser Stimme.
Einige Sekunden des Schweigens vergingen, bis ein Arzt auftauchte: "Sind Sie die Familie von Keisuke Baji?"
"Ja, richtig," antwortete der Vater.
"Dann folgen Sie mir bitte," sagte der Arzt und führte sie durch die Gänge des Krankenhauses.
Moe war schon einige Male im Krankenhaus gewesen, um Freunde oder Verwandte zu besuchen, und kannte sich daher ein wenig aus. Doch irgendetwas war diesmal anders. Sie hatte ein schreckliches Gefühl im Bauch. Der Arzt führte sie nicht zu den Patientenzimmern wie üblich, sondern einen anderen, kälteren Weg entlang.
"Wie geht es meinem Sohn?" fragte die Mutter mit einer Spur von Panik in der Stimme.
"Sie müssen wissen, dass Ihr Sohn in einen schweren Kampf verwickelt wurde," begann der Arzt ernst. "Dabei erlitt er eine schwere Stichwunde."
Der Arzt blieb vor einer Tür stehen und sah die Familie mit ernster Miene an. "Er hat es leider nicht geschafft."
Er öffnete die Tür, und Moe erblickte ihren Bruder, der leblos auf einem Tisch lag.
Die Welt um Moe herum schien zu verschwimmen, als sie auf Keisukes leblosen Körper blickte. Die Realität, dass ihr Bruder wirklich tot war, drang nur langsam zu ihr durch. Ihre Mutter brach sofort in Tränen aus und sank zu Boden. Ihr Vater kniete sich neben sie und nahm sie in die Arme, um sie zu trösten, obwohl seine eigenen Augen voller Trauer waren.
Moe stand wie betäubt da. Sie ging zu Keisuke, ihre Bewegungen mechanisch, als ob sie von einer fremden Kraft gesteuert wurden. Sie berührte seine Wangen, die eiskalt waren. Sein Gesicht, das immer voller Leben und Energie gewesen war, war nun blass und unbewegt. Moe wollte es nicht glauben. Es fühlte sich an wie ein böser Traum, aus dem sie nicht erwachen konnte.
Die Tränen, die sie erwartete, kamen nicht. Es war, als ob ihr Körper sich weigerte zu akzeptieren, was ihre Augen sahen. Schließlich konnte sie es nicht länger ertragen. Sie drehte sich um und verließ den Raum, die Tür hinter sich schließend.
Kaum hatte sie die Tür hinter sich gelassen, stand Nahoya direkt vor ihr. Ohne ein Wort zu sagen, nahm er sie fest in die Arme. Moe lehnte sich gegen ihn, unfähig, zu weinen oder zu sprechen. Der Schock hatte sie völlig gelähmt. Souya stand schweigend hinter den beiden, seine Augen voller Mitgefühl und Trauer.
Nahoya hielt Moe, während die Minuten verstrichen, und Moe spürte langsam, wie die Realität sie einholte. Ihr Körper zitterte, und sie wusste, dass sie irgendwann weinen würde. Doch in diesem Moment war sie einfach nur dankbar für die stille Unterstützung ihrer Freunde.
Die Tage nach Keisukes Tod waren für Moe wie in Trance. Sie bewegte sich mechanisch durch die Welt, als wäre sie ein Geist, der zusah, wie das Leben der anderen weiterging, während ihres stillstand. Die Realität schien wie hinter einem Schleier verborgen. Selbst bei der Beerdigung, als alle um sie herum weinten, blieben ihre Augen trocken. Es war, als ob ihre Tränen irgendwo tief in ihr eingefroren waren.
Moe verbrachte viel Zeit an Keisukes Grab, oft stundenlang. Sie fühlte sich ihm dort am nächsten, als ob er sie aus einer anderen Welt sehen konnte. Die Blumen, die Freunde und Familie gebracht hatten, verblühten langsam, und Moe fand Trost darin, sich um sie zu kümmern, sie zu erneuern, so wie sie es auch mit ihren Erinnerungen an ihn tat.
Nahoya und Souya machten sich Sorgen um sie. Sie beobachteten sie aus der Ferne, unfähig zu verstehen, wie sie mit ihrer Trauer umging.
Souya brach schließlich das Schweigen zwischen ihnen: "Ich denke, du solltest zu ihr gehen und mit ihr reden."
Nahoya war zögerlich. "Worüber denn? Und wieso machst du das nicht?"
Souya blickte seinen Bruder ernst an. "Es ist egal, worüber. Aber schau sie dir doch mal an. Sie hat noch nicht mal geweint. Das ist doch nicht gut für sie. Und du bist die einzig richtige Person, die in diesem Moment bei ihr sein sollte."
Nahoya verstand, was sein Bruder meinte. Es war schwer zu sehen, wie Moe so gefangen in ihrer Trauer war. Mit einem entschlossenen Nicken ging er auf Moe zu.
Moe saß am Grab und war tief in Gedanken versunken, als Nahoya sich näherte. Sie bemerkte ihn erst, als er direkt neben ihr stand.
"Hey, kann ich mich zu dir setzen?" fragte Nahoya vorsichtig.
Moe sah ihn erschrocken an, nickte jedoch, als sie ihn erkannte. Sie saßen eine Weile schweigend nebeneinander, die Stille nur unterbrochen vom leichten Rascheln der Blätter im Wind.
Nahoya brach schließlich das Schweigen: "Moe, du kannst…"
Doch er kam nicht dazu, den Satz zu beenden. Moe unterbrach ihn, ihre Stimme brach fast unter der Last ihrer Gefühle.
„Ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll“, sagte Moe leise, ihre Stimme brüchig. „Es fühlt sich so an, als ob der Boden unter mir weggerissen wurde.“
Sie schluckte schwer, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Keisuke war immer derjenige, der mich beschützt hat. Er war immer da, wenn ich ihn brauchte, und jetzt... jetzt ist er einfach weg. Ich kann nicht glauben, dass ich nie wieder seine Stimme hören werde.“
Ihre Tränen flossen jetzt unaufhörlich. „Ich habe ihn nie wirklich wissen lassen, wie wichtig er mir war. Ich wollte ihm immer die ganze Zeit zeigen, wie sehr ich ihn schätze, aber jetzt ist es zu spät. Es fühlt sich an, als hätte ich ihm nicht genug gesagt, nicht genug gezeigt.“
Moe schluchzte, und ihre Worte kamen in hastigen, durch Tränen unterbrochenen Ausbrüchen. „Und der Gedanke, dass es meine Schuld sein könnte, dass er sich in diese gefährliche Situation gebracht hat... Es quält mich, Nahoya. Ich wollte ihn schützen, und doch habe ich ihm nur noch mehr Probleme eingebracht.“
Sie legte ihre Hand vor ihren Mund, als ob sie damit versuchen könnte, die Schreie der Verzweiflung zu unterdrücken, die in ihr aufstiegen. „Es tut so weh, dass ich mich nicht wehren kann. Es tut so weh, dass ich einfach nur zusehen musste, wie er gegangen ist. Ich wollte nur, dass alles wieder normal wird, aber es wird nie wieder normal sein.“
Die Worte schienen eine nie enden wollende Flut von Emotionen freizusetzen. Der Druck, den sie so lange in sich gehalten hatte, wurde endlich durch die Tränen abgelassen. Es war eine Erleichterung, endlich weinen zu können, die Fassade der Stärke fallen zu lassen, die sie sich so mühsam aufgebaut hatte.
„Ich weiß nicht, wie ich ohne ihn weitermachen soll“, flüsterte Moe schließlich, ihre Stimme war kaum noch mehr als ein Rauschen. „Es fühlt sich an, als wäre ein Teil von mir mit ihm gegangen.“
Nahoya konnte sehen, wie sehr sie litt, und sein Herz schmerzte bei dem Gedanken, dass er nicht viel hatte tun können, um ihr zu helfen. Ohne ein Wort zog er sie sanft in seine Arme. Moe ließ sich in die Umarmung sinken, und die Wärme seiner Umarmung schien sie ein kleines bisschen zu beruhigen.
Moe klammerte sich an Nahoya, dankbar für seine stille Unterstützung, und für den ersten Moment seit langem fühlte sie sich ein wenig leichter. Die Welt um sie herum war immer noch dunkel, aber in Nahoyas Nähe war ein kleines Licht, das den Weg aus dem Schatten wies.