Kapitel fünf
Moe schien in den Wochen nach Keisukes Tod langsam aus ihrem emotionalen Winterschlaf zu erwachen. Stück für Stück fand sie den Weg zurück in den Alltag, auch wenn es eine Herausforderung war. Jeder Schritt fühlte sich an, als würde sie durch tiefen Sand waten, doch mit der Unterstützung von Nahoya und Souya fand sie den Mut, weiterzugehen.
Eines Tages, während eines ruhigen Nachmittags in einem Café, wandte Moe sich an die Zwillinge. Die Sonne warf sanfte, warme Strahlen durch das Fenster, und die Geräusche der Stadt drangen gedämpft zu ihnen durch. Sie nahm einen tiefen Atemzug und begann zu sprechen.
„Ich muss euch etwas erzählen“, begann sie, ihre Stimme leise und zögerlich. „Einer der Gründe, warum Keisuke zu Valhalla gegangen ist... das war ich.“
Nahoya und Souya tauschten einen überraschten Blick aus. „Was meinst du?“ fragte Souya sanft.
Moe fühlte die Last der Schuld schwer auf ihren Schultern. „Hanma hat mich bedroht. Er sagte, dass ich in Gefahr wäre, wenn Keisuke nicht kooperiert. Keisuke hat alles getan, um mich zu schützen.“
Nahoya runzelte die Stirn, und in seinen Augen flackerte ein Funken von Wut. „Warum hast du uns nichts davon erzählt?“ fragte er, seine Stimme schärfer als beabsichtigt.
Moe sah zu Boden. „Ich wollte euch nicht hineinziehen. Ich dachte, ich könnte es alleine schaffen.“
Nahoya seufzte tief, die Frustration über ihre Geheimniskrämerei kämpfte mit dem Verständnis für ihren Schmerz. Er legte seine Hand auf ihre, seine Stimme jetzt sanfter. „Moe, wir sind deine Freunde. Du musst uns solche Dinge sagen. Wir können dir nur helfen, wenn du uns lässt.“
Obwohl er enttäuscht war, erkannte Nahoya, dass Moe genug gelitten hatte. In den folgenden Wochen war er eine konstante Unterstützung für sie, half ihr, die schweren Momente zu überstehen und fand Wege, sie zum Lächeln zu bringen. Sie merkten beide, dass ihre ständigen Neckereien eine tiefere Zuneigung verbargen, die sich langsam entfaltete.
Als Weihnachten näher rückte, verbrachten Nahoya, Moe und den Abend miteinander. Das Zuhause der Zwillinge war gemütlich geschmückt, und der Duft von frischer, selbstgemachter Nudelsuppe erfüllte die Luft.
„Willkommen“, grinste Nahoya, als er die Suppe servierte. „Heute gibt es die beste Suppe der Stadt.“
Souya schnupperte und hob anerkennend die Augenbrauen. „Vielleicht sollten wir wirklich einen Laden aufmachen. Ein Familienbetrieb, geführt von den Kawata-Zwillingen.“
Moe lachte, ein echtes, warmes Lachen, das lange vermisst worden war. „Ich würde Stammgast sein, ganz sicher.“
Während sie zusammen aßen, machten sie Witze und genossen die entspannte Atmosphäre. Während Moe sich an den Tisch zurück lehnte und Nahoya und Souya bei ihrem fröhlichen Geplänkel zusah, überkam sie ein Moment der Melancholie. Die leeren Stühle am Tisch, die für ihren Bruder Keisuke reserviert waren, schienen besonders präsent. Sie vermisste ihn so sehr, dass es manchmal schmerzte. Die Leere, die sein Tod hinterlassen hatte, war ein ständiger Begleiter, auch an diesen ansonsten fröhlichen Tagen.
An Silvester trafen sie sich erneut, um das neue Jahr zu feiern. Als die Uhr Mitternacht schlug, standen sie auf dem Balkon, die Gläser in den Händen. Das Knallen der Feuerwerke begann, und die ersten bunten Lichter explodierten am Himmel. Die Luft war erfüllt von einem Fest der Farben, und alle drei stießen fröhlich an.
„Auf ein neues Jahr, das uns noch mehr Gründe zum Lachen gibt!“, rief Nahoya, während er sein Glas in die Höhe hielt.
Moe lachte und stieß mit ihm an. „Wenn du mir heute Abend ein Kompliment machst, dann könnte das das beste Jahr überhaupt werden.“
Nahoya sah sie mit einem schelmischen Lächeln an. „Oh, wirklich? Komplimente sind keine einfache Angelegenheit“, erwiderte Nahoya und nahm einen Schluck von seinem Getränk. „Ich dachte, wir könnten es einfach halten, wie ‚Moe, du siehst fantastisch aus, wie immer.‘“
„Das ist ja fast schon langweilig“, konterte Moe. „Du solltest dich mal etwas mehr ins Zeug legen, wenn du versuchst, mich zu beeindrucken.“
„Ach ja?“, sagte Nahoya und trat einen Schritt näher, seine Augen funkelten vor Amüsement. „Vielleicht sollte ich auch erwähnen, dass ich es sehr schätze, wie du dich immer wieder von deiner besten Seite zeigst – besonders wenn du mich ständig neckst.“
„Ist das dein ernst?“, fragte Moe lachend, als sie ihm auf die Füße trat, als ob sie sich für den Moment bereit machen wollte, sich zu behaupten.
„Natürlich“, antwortete Nahoya und hob eine Augenbraue. „Vielleicht bist du einfach nur eifersüchtig auf meine unvergleichlichen Kochkünste und versuchst, mich davon abzuhalten, die beste Version von mir selbst zu zeigen.“
„Eifersüchtig?“, wiederholte Moe mit einem schiefen Lächeln. „Nicht im geringsten. Ich genieße es nur, dich ein wenig auf Trab zu halten, damit du nicht denkst, dass du immer die Oberhand hast.“
Die beiden standen nun sehr nah beieinander, die gespielte Konkurrenz und die Lächeln, die ihre Gesichter zierten, schufen eine Verbindung, die über die Neujahrsfeier hinausging. Es war klar, dass ihre Neckereien nicht nur ein Spiel waren, sondern ein Zeichen für eine tiefere Zuneigung, die sich zwischen ihnen entwickelt hatte.
Als das Feuerwerk seinen Höhepunkt erreichte und die Nacht in ein spektakuläres Lichtermeer getaucht wurde, konnte Moe den Gedanken nicht abschütteln, dass sie sich zum ersten Mal seit langem wirklich lebendig fühlte. Die Wärme und Nähe der Zwillinge um sie herum ließ sie spüren, dass sie nicht allein war. Der Zauber des Moments, gepaart mit der Vertrautheit und den spielerischen Sticheleien, schuf ein Gefühl der Geborgenheit, das sie in den letzten Monaten vermisst hatte.
„Wahrscheinlich hast du recht“, sagte Moe schließlich, während sie den Blick auf das Feuerwerk lenkte. „Vielleicht sollte ich einfach damit aufhören, dir immer nur die schlechtesten Seiten von dir vor Augen zu führen und anfangen, die Guten zu schätzen.“
Nahoya sah sie an, seine Augen funkelten im Licht der Feuerwerke. „Ich denke, das ist ein guter Vorsatz. Vielleicht sollten wir beide versuchen, etwas weniger zu streiten und mehr zu schätzen, was wir hier haben.“
„Das klingt nach einem Plan“, sagte Moe lächelnd, als sie sich wieder einander zuwandten. Die Atmosphäre zwischen ihnen war entspannt und voller ungesagter Worte
Im neuen Jahr arbeiteten Nahoya und Moe zusammen an einem Projekt in der Bibliothek. In der Bibliothek herrschte eine gedämpfte Stille, die nur vom gelegentlichen Rascheln von Papier und dem leisen Klicken von Computertasten unterbrochen wurde. Moe und Nahoya hatten sich an einem Tisch in der Ecke niedergelassen, umgeben von hohen Bücherregalen, die den Raum in warmes, diffuses Licht tauchten. Vor ihnen lagen Bücher, Notizen und Laptops verstreut, während sie an einem Projekt für den Geschichtsunterricht arbeiteten.
Moe war tief in ein Buch vertieft, ihre Augen huschten über die Seiten, während sie mit einem Stift Notizen machte. Nahoya saß neben ihr und stützte seinen Kopf auf eine Hand, während er seine eigenen Notizen durchging. Gelegentlich tauschten sie kurze Blicke aus, während sie arbeiteten.
„Hast du das hier schon gelesen?“ fragte Moe und deutete auf einen Absatz in ihrem Buch.
Nahoya lehnte sich vor, um besser sehen zu können. „Nein, zeig mal“, sagte er und rückte näher. Seine Schulter berührte fast die ihre, und Moe konnte seine Körperwärme spüren.
Während sie die Informationen durchgingen, scherzte Nahoya: „Das klingt fast so, als hätte er zu viel am Schnaps genippt, bevor er die Schlacht geplant hat.“
Moe lachte leise, ein sanftes Kichern, das ihre Augen aufleuchten ließ. „Vielleicht hätte er besser auf dich hören sollen.“
Ihre Blicke trafen sich erneut, und Nahoya bemerkte, wie nahe ihre Gesichter einander gekommen waren. Ein sanftes Kribbeln breitete sich in seinem Bauch aus, und er sah, dass auch Moe leicht errötete.
Für einen Moment verharrten sie in dieser Position, die Welt um sie herum schien in den Hintergrund zu treten. Nahoya bemerkte, wie Moe nervös an ihrer Halskette spielte, ein verräterisches Zeichen ihrer Unsicherheit.
Er wagte sich, ihre Hand leicht zu berühren, als er sagte: „Ich bin froh, dass wir das zusammen machen. Es macht das Ganze viel erträglicher.“
Moe schmunzelte und ließ den Stift sinken. „Ja, mit dir macht sogar Geschichte Spaß“, antwortete sie leise.
Nahoya beugte sich noch ein Stück weiter vor, und ihre Gesichter kamen sich bedenklich nahe. Doch dann hielt er inne und zog seine Hand zurück, als wäre ihm erst jetzt bewusst, wie vertraut sie geworden waren.
Die plötzliche Nähe und die Intimität des Augenblicks schienen beide zu überfordern. Moe räusperte sich und brach den Augenkontakt ab. Sie blickte auf ihre Notizen, ihre Wangen leicht gerötet.
„Vielleicht sollten wir uns auf das Projekt konzentrieren“, schlug sie vor, ihre Stimme leise, aber fest.
Nahoya nickte, auch er fühlte sich ein wenig verlegen. „Ja, das sollten wir“, stimmte er zu, ein leises Lächeln auf seinen Lippen.
Obwohl der Moment unterbrochen wurde, hinterließ er ein unausgesprochenes Verständnis zwischen ihnen. Eine Spannung, die sie beide spürten, aber noch nicht bereit waren, vollständig zu erkunden.
Am Valentinstag entschloss sich Moe, den Zwillingen ihre Dankbarkeit zu zeigen. Sie verbrachte Stunden in der Küche, Schokolade selbst zu machen, und am Nachmittag traf sie sich mit Nahoya und Souya.
„Für euch beide“, sagte sie, als sie ihnen die liebevoll verpackten Päckchen überreichte. „Danke, dass ihr in dieser schweren Zeit für mich da wart.“
Souya grinste und nahm seine Schokolade entgegen. „Wow, danke, Moe!“
Nahoya nahm seine Schokolade mit einem dankbaren Lächeln entgegen, seine Augen leuchteten. „Ich wusste gar nicht, dass du so gut im Schokolade machen bist.“
Moe zuckte mit den Schultern, ihre Wangen leicht gerötet. „Ich dachte, ich probiere es einfach mal aus.“
Langsam, Schritt für Schritt, fand Moe ihren Weg zurück ins Leben. Die Unterstützung der Zwillinge und die wachsende Zuneigung zwischen ihr und Nahoya halfen ihr, die Trauer um ihren Bruder zu verarbeiten und wieder Hoffnung zu schöpfen.
Es war ein grauer Nachmittag, als Moe und Nahoya die Schule verließen. Souya war heute erst gar nicht zum Unterricht erschienen. Der Himmel hatte sich zunehmend verdunkelt, und der Wind trug den Geruch von bevorstehendem Regen in sich. Moe und Nahoya gingen die Straße entlang, die sich langsam mit Menschen füllte, die nach Hause eilten, um dem drohenden Unwetter zu entkommen.
Kaum hatten sie das Ende der Straße erreicht, öffnete der Himmel seine Schleusen, und ein plötzlicher, heftiger Regenschauer setzte ein. Tropfen prasselten wie kleine Trommelschläge auf die Asphaltstraße, und binnen Sekunden waren Moe und Nahoya durchnässt. Nahoya sah Moe an, ihre Haare klebten ihr bereits im Gesicht, und sie versuchte lachend, die nassen Strähnen aus ihrem Blickfeld zu streichen. „Na toll, jetzt sind wir komplett durchnässt“, sagte sie, ihre Stimme von einem amüsierten Unterton begleitet.
Nahoya sah sich schnell um und entdeckte eine kleine, überdachte Bushaltestelle in der Nähe. „Komm, lass uns da drüben unterstellen“, schlug er vor und deutete auf die Haltestelle. Die beiden rannten lachend durch den Regen und erreichten den Unterstand, gerade als der Regen noch heftiger wurde.
Unter dem schützenden Dach der Bushaltestelle standen sie dicht nebeneinander. Moe fröstelte leicht, und Nahoya bemerkte es. „Hier“, sagte er, zog seine Jacke aus und legte sie Moe um die Schultern, auch wenn sie selbst schon nass war. „Besser so als nichts.“
Moe lächelte dankbar und zog die Jacke enger um sich. „Danke“, murmelte sie, ihre Augen trafen seine, und ein warmes Gefühl breitete sich zwischen ihnen aus, das nichts mit der Jacke zu tun hatte.
Während der Regen weiterhin unaufhörlich auf das Dach der Haltestelle prasselte, standen sie da, eng aneinander gelehnt. Die Luft war erfüllt von dem frischen, erdigen Geruch des Regens, und die Welt um sie herum schien sich in einen sanften Schleier aus Wasser und Grau zu hüllen.
„Eigentlich mag ich den Regen“, sagte Moe leise, als hätte sie Angst, den Zauber des Moments zu brechen.
Nahoya nickte. „Ja, es hat etwas Beruhigendes. Obwohl ich normalerweise nicht so nass dabei werden möchte“, erwiderte er mit einem schiefen Grinsen.
Sie standen so nah beieinander, dass Moe den leichten Schauer in seinen Augen sehen konnte, und für einen Moment spürte sie das vertraute Kribbeln, das sie immer in seiner Nähe überkam. Ohne sich dessen wirklich bewusst zu sein, näherte sie sich ihm ein wenig mehr.
Nahoya bemerkte die Bewegung, und seine Hand fand unwillkürlich ihren Weg zu Moes Hand, die an ihrer Seite hing. Ihre Finger berührten sich leicht, und für einen flüchtigen Moment dachte Moe, dass sie ihn vielleicht küssen würde.
Doch bevor einer von ihnen den Mut aufbrachte, den Abstand zu überwinden, räusperte sich jemand lautstark neben ihnen. Ein älterer Mann, ebenfalls durchnässt, hatte sich zu ihnen gesellt, um dem Regen zu entkommen. Moe und Nahoya zuckten auseinander, als wären sie aus einem Traum erwacht.
„Oh, Entschuldigung, ich wollte nicht stören“, sagte der Mann mit einem verständnisvollen Lächeln, das verriet, dass er mehr gesehen hatte, als er vorgab.
Moe und Nahoya lachten verlegen und rückten ein Stück auseinander, aber das Gefühl, das zwischen ihnen gehangen hatte, blieb.