Verlorenes Zuhause
Ein kleines, staubiges Grenzdorf, eingekeilt zwischen dem Reich des Feuers und dem des Windes. Die Sonne brannte flach über den niedrigen Lehmhäusern, und der Wind brachte nichts als Sand und Gerüchte mit sich. Auf den ersten Blick war es ein verschlafener Ort, zu klein, um wichtig zu sein, zu abgelegen, um beachtet zu werden. Genau das machte ihn perfekt.
Der Auftrag war klar, aber heikel: Eine Undercover-Mission. Ziel war es, Informationen über einen Schmugglerring zu beschaffen, der Waffen und Jutsu-Scrolls an feindliche Fraktionen verkaufte. Die Tarnung war ebenso simpel wie unbequem, ein reisendes Ehepaar mit Handelslizenz, das angeblich medizinische Kräuter und Talismane anbot. Niemand sollte auf die Idee kommen, dass hinter den freundlichen Lächeln zwei Shinobi steckten.
Die Dauer der Mission? Unbestimmt. Das Risiko? Hoch. Die Begleitung? Unglücklicherweise... vertraut.
Aiko Uchiha und Genma Shiranui. Zwei Namen, die in den Berichten nüchtern nebeneinanderstanden, in der Realität aber wie Feuerstein und Stahl aneinander schlugen. Und zwischen ihnen: nichts außer unausgesprochener Spannung, die so greifbar war wie der Staub auf den Fensterbänken.
Es gab keine Wahl. Kein Rückzug. Nur Tarnung, Nähe – und ein Spiel, das gefährlicher war als jedes Kunai.
Es war bereits die dritte Nacht. Die Taverne war warm von Stimmen, Dampf und Geschichten. Ein Gemisch aus gebratenem Reis, Schweiß und Holzrauch lag in der Luft wie eine Decke, die keiner lüften wollte. Aiko saß am runden Tisch am Fenster, ein dampfender Becher Tee zwischen den Fingern. Ihre Kapuze war tief ins Gesicht gezogen, doch ihre Augen glitten rastlos durch den Raum. Jeder Blick, jedes falsche Lächeln wurde registriert.
Gegenüber saß Genma. Sein Gesicht zeigte müde Züge, aber seine Lippen formten das Lächeln, das ihr Kontaktmann verlangt hatte: vertraut, fast verliebt.
„Liebling,“ sagte er flüsternd, mit aufgesetzter Wärme, „du solltest öfter so ernst gucken. Es macht dich fast sympathisch.“
„Sprich mich nochmal so an,“ murmelte Aiko zurück, ohne aufzusehen, „und ich vergesse, dass wir hier niemanden töten sollen.“
Genma verzog kaum sichtbar den Mund.
„Ah, da ist sie wieder – die Romantik,“ sagte er leise.
Ein Bauer am Nachbartisch lachte kurz, trank dann weiter, ohne den Blick abzuwenden. Sie hatten Publikum. Und sie wussten es.
Genma beugte sich leicht vor, das Lächeln fest auf den Lippen.
„Du weißt schon, dass du mit dieser Miene jede Chance auf einen kostenlosen Tee ruinierst?“
„Ich zahle lieber doppelt,“ erwiderte Aiko, während sie langsam an ihrem Becher nippte, „als dich noch eine Minute länger wie meinen Ehemann spielen zu sehen.“
Genma lehnte sich zurück, als wäre er zutiefst verletzt.
„Du brichst mir das Herz. Und das in aller Öffentlichkeit.“
„Dann versuch es doch mal mit Ehrlichkeit. Vielleicht glaubt dir dann wenigstens einer.“
Er grinste. „Wär das nicht gefährlich? Stell dir vor, ich sag was Nettes, du könntest dich dran gewöhnen.“
„Falls das passiert,“ sagte sie trocken, „weiß ich, dass du vergiftet wurdest.“
Ein weiterer Lacher vom Nebentisch. Diesmal sogar zwei Stimmen.
„Siehst du?“ flüsterte Genma, ohne die Lippen groß zu bewegen. „Das ist echte Chemie zwischen uns. Selbst die Bauern glauben's.“
Aiko drehte den Kopf nur minimal, ihr Blick kühl wie Stahl.
„Noch ein Kommentar, und du wachst morgen ohne Senbon auf. Und ohne Augenbrauen.“
Genma hielt inne, gerade lang genug, um es wirken zu lassen.
„Na gut. Aber nur, weil ich weiß, dass du es könntest.“
Aiko schwieg. Doch für einen Wimpernschlag zuckte etwas in ihrem Mundwinkel.
Und genau deshalb grinste Genma, als hätte er gerade gewonnen.
Das gemietete Zimmer über der Taverne war kaum breiter als zwei ausgestreckte Arme. Die Dielen knarrten bei jedem Schritt, der Putz bröckelte an einer Ecke der Wand. Zwei Futons lagen nebeneinander, absichtlich nah. Ehepaar eben.
Aiko saß am Fenster, ihre Silhouette im Zwielicht scharf gezeichnet. Genma lag auf dem Rücken, die Arme hinter dem Kopf, das Senbon auf dem Nachttisch abgelegt wie eine Waffe, die man nur kurz aus der Hand gibt.
„Ich kann kaum glauben, dass sie ausgerechnet uns beide dafür eingeteilt haben,“ sagte er, ohne sie anzusehen.
„Ich schon,“ entgegnete sie. „Niemand will freiwillig mit dir auf so eine Mission.“
„Tja. Die Ironie liegt darin, dass du dieselbe Strafe bekommen hast.“
Ein kurzes Schmunzeln zuckte um ihre Lippen.
„Strafe? Ich nenn's Charaktertest.“
„Du meinst: wie lange wir uns gegenseitig ignorieren können, ohne dass jemand stirbt?“
„Oder ob du irgendwann mal fünf Minuten schweigen kannst.“
Ein kurzes, kaum sichtbares Lächeln huschte über Aikos Gesicht. Ihre Bewegungen waren ruhig, kontrolliert. Aber ihr Blick verriet, dass ihr Kopf längst nicht so ruhig war wie ihre Hände.
Sie stand auf, langsam, fast zögerlich, und ließ sich wortlos auf ihren Futon sinken. Zwischen ihr und Genma lag kaum ein halber Meter, zu wenig, um ihn zu ignorieren, zu viel, um ihn wirklich zu spüren.
Der Abstand war gewollt. Und gleichzeitig nicht genug.
Sie drehte ihm den Rücken zu. Der Stoff der dünnen Decke raschelte leise, als sie sich zurechtrückte.
Genma sagte nichts. Aber er war wach. Wach und sich schmerzlich bewusst, wie präsent sie war. Ihre leisen Atemzüge. Das Gewicht der Nähe, das schwerer wog als jedes Missionsgepäck.
Er lag noch immer auf dem Rücken, die Decke halb über die Brust gezogen, die Stirn leicht gerunzelt.
„Bist du noch wach?“ fragte Aiko plötzlich, ihre Stimme leise.
„Kommt drauf an, wofür ich wach sein müsste,“ antwortete er nach einem Moment, ohne sich zu rühren.
„Nur fürs Nichtreden.“
„Das kann ich. Wenn ich will.“
Sie schwieg. Und irgendwie war genau das die Antwort.
Ein paar Minuten verstrichen. Die Geräusche aus der Taverne unten waren verstummt, nur ein vereinzeltes Knarren im Gebälk erinnerte daran, dass die Welt sich nicht ganz schlafen legte.
Aiko schloss die Augen, doch Ruhe kam keine. Der Futon unter ihr war weich, die Decke leicht, und doch war alles zu viel. Dass sie hier lag. Dass sie sich wohlfühlte. Dass sie Genma neben sich spürte und es sie nicht störte.
Und dass sie sich wünschte, es wäre nicht so… falsch.
Denn zuhause wartete jemand. Shisui. Ihr Ruhepol. Ihr Vertrauter. Ihr… was?
Sie drehte sich leise auf den Rücken, starrte an die dunkle Zimmerdecke. Alles fühlte sich zu warm an. Zu still. Und zu ehrlich.
Auch Genma hatte sich nicht bewegt. Doch in seinem Inneren war längst kein Schlaf mehr. Nur ein Ringen mit Gedanken, die er lieber nicht gedacht hätte. Die Art, wie sie im Dämmerlicht geschaut hatte. Wie ihr Lächeln kurz und selten, aber immer echt war. Wie sehr es ihn störte, dass sie so nah war und doch nicht erreichbar.
Er drehte den Kopf leicht, sah zu ihr hinüber. Ihre Augen waren geschlossen, aber ihre Atmung verriet ihm: Sie war nicht eingeschlafen.
„Aiko?“ fragte er leise.
„Hm?“
„Wenn ich morgen sterben sollte, darf ich dann sagen, ich hab eine Nacht neben dir überlebt, ohne dass du mich umgebracht hast?“
Sie öffnete die Augen und drehte leicht den Kopf zu ihm.
„Kommt drauf an, ob du jetzt weiterredest.“
Ein Hauch von Grinsen zuckte über seine Lippen.
Dann schwiegen sie beide.
Und irgendwann, viel später, als sie zugeben würden, fielen ihnen die Augen zu. Mit einem halben Meter Abstand, der mehr sagte als Berührung. Und weniger als das, was zwischen ihnen hing.
Der Marktplatz war lebendig wie ein eigener Organismus. Stimmen überschlugen sich, Händler priesen ihre Waren an, der Duft von gebratenem Fisch und altem Leinen lag in der Luft.
Aiko beugte sich über einen Stand mit getrockneten Kräutern, die Finger gleitend, als wäre sie wirklich eine Händlerin. Ihre Tarnung saß. Die Körpersprache war ruhig, selbstsicher. Genma stand daneben, eine Tasche an der Hand, in der nichts war, was wirklich nützte.
Der Kontaktmann war in Sichtweite. Misstrauisch. Schweigend.
„Oh nein, Schatz,“ rief Genma zu laut, „ich hab schon wieder den Beutel mit den Kräutersamen verloren!“
Aiko biss sich auf die Innenseite der Wange. Das Grinsen war zu nah. Sie zwang ihre Miene zur Ruhe.
„Wenn du das nochmal machst,“ zischte sie, „verschwinden deine echten Zähne.“
„Dann hör auf, mich so überzeugend anzusehen, als würdest du's wirklich tun.“
Die Sonne am siebten Abend war beinahe verschwunden, nur ein letzter Streifen Licht glomm über den Dächern. Der Himmel war von Rosa zu Violett verblasst, das Dorf unter ihnen war stiller geworden.
Aiko saß auf der niedrigen Brüstung, die Beine frei über dem Abgrund. Genma stand nahe, lehnte sich mit einer Hand auf die warme Dachziegel.
Sie hatte gelacht. Leise, ehrlich. Kein Sarkasmus. Kein Trotz.
„Ich kann nicht glauben, dass du diesen Typen mit einem Blumenkranz bestochen hast,“ sagte sie, noch immer leicht schmunzelnd.
„Was soll ich sagen? Ich kann charmant sein, wenn ich will. Und es war dein Plan, dass ich wie ein Trottel aussehe.“
„Ich hab nicht gedacht, dass du's so ernst nimmst.“
„Ich nehm alles ernst, was dich nervt. Es funktioniert zuverlässig.“
Ein Moment verging. Nur das Rascheln der Nacht, das entfernte Klappern von Geschirr aus der Küche.
Aiko blickte in den Himmel, die Arme um die Knie gelegt.
„Ich hasse es, dass das nicht so schlimm war, wie ich befürchtet hatte.“
Genma nickte langsam.
„Ich hasse es, dass ich genau das Gleiche denke.“
Und diesmal, ganz ohne Sarkasmus, ohne doppelten Boden, lachten sie. Gemeinsam.
Der Himmel war grau und wolkenverhangen, als sie das Haupttor von Konohagakure am späten Nachmittag erreichten. Die Luft wirkte dumpf, träge, voll von unausgesprochenen Dingen, die sich wie Schatten über die Mauern legten.
Aiko trat durch das große Tor, den Blick nach vorn gerichtet, aber die Schultern leicht erhoben, die Kiefermuskulatur gespannt. Ihr Schritt war ruhig, doch jedes Gelenk in Bereitschaft. Neben ihr ging Genma, die Arme locker verschränkt, das Senbon wie üblich zwischen den Lippen. Etwas stimmte nicht.
„Zu ruhig,“ sagte er leise.
Aiko nickte kaum merklich. „Die Straßen sind leerer als sonst.“
Der Wind trug keine Gespräche. Kein Kinderlachen. Kein Klirren aus den Werkstätten. Nur Stille und das dumpfe Echo ihrer Schritte auf dem Pflaster.
Dann, plötzlich, tauchte Raidō auf. Er stand an der inneren Mauer, die Arme an den Seiten, der Blick ungewohnt hart. Kein Lächeln. Kein lockerer Spruch. Kein „Willkommen zurück“.
„Der Hokage will euch. Sofort. Büro,“ sagte er, ohne Umschweife.
Genma hob eine Braue, der Ton in seiner Stimme misstrauisch.
„Irgendein Grund? Ist was passiert?“
Raidō zögerte, dann sprach er leise, aber mit Nachdruck: „Ich darf nichts sagen. Nur: Geht sofort. Bitte.“
Dann verschwand er. Keine Erklärung. Kein Blick zurück.
Aiko und Genma warfen sich einen kurzen Blick zu. Kein Wort war nötig. Ihre Haltung wurde eine Nuance angespannter. Gemeinsam machten sie sich auf den Weg zum Hokage-Gebäude. Aber nicht in das normale Missionsbüro. Sie wurden durch das Vorzimmer geleitet, an Akten vorbei. Das innere Zimmer hinter dem eigentlichen Büro: ein Raum, den man als Shinobi kannte, aber nie betreten wollte. Kein Ort für einfache Anweisungen. Kein Ort für harmlose Aufträge.
Hiruzen Sarutobi saß am Kopf des niedrigen Tisches. Die Pfeife vor ihm lag unberührt. Die Fenster waren halb geschlossen, das Licht darin gedämpft wie in einem Schrein.
Er sagte nichts, als sie eintraten.
Genma trat einen Schritt nach vorn, die Stirn leicht gerunzelt.
„Bericht? Oder… was genau ist das hier?“
„Setzt euch,“ sagte Hiruzen nur. Leise. Ohne den Blick zu heben.
Sie setzten sich. Noch immer kein Ton von Aiko. Aber ihre Sinne waren geschärft. Ihre Haltung angespannt. Ihr Herz schlug nicht schneller. Aber es schlug anders.
Etwas war passiert. Und sie ahnte, dass es nichts war, was sich mit einem Missionsbericht aufklären ließ.
Dann öffnete sich die Tür hinter dem Hokage.
Das kontrollierte, leise Schieben von Papier gegen Holz, das sich wie ein kalter Windhauch in den Raum schnitt.
Koharu Utatane. Homura Mitokado. Und Danzō Shimura.
Die Ältesten von Konoha.
Sie traten ein, als gehöre ihnen der Raum. Blicke, schneidend, kalt, abwägend. Hiruzen sagte nichts. Er saß einfach da, wie ein stiller Zeuge des bevorstehenden Sturms.
Koharu verschwendete keine Zeit.
„Wie lang wart ihr im Grenzgebiet?“
Genma blinzelte. Ein kurzer Moment der Irritation, dann antwortete er ruhig:
„Knapp zwei Wochen. Undercover-Einsatz. Warum?“
Homura trat einen Schritt näher, seine Stimme sachlich, doch gepresst.
„Wer hat euch über den Missionsverlauf informiert? Mit wem hattet ihr Kontakt nach außen?“
Aiko hob langsam den Blick. Ihre Haltung war aufrecht, ihre Stimme so kalt wie klares Wasser.
„Wir hatten keinerlei Funkkontakt. Missionsprotokoll. Standardverfahren. Nichts Ungewöhnliches.“
Danzō trat erst jetzt vor. Er sah nur Aiko an, nicht Genma. Kein Blinzeln. Kein Wimpernschlag. Seine Stimme war leise. Aber wie ein Haken unter der Haut.
„Nichts... Ungewöhnliches. Und du hast auch nichts Ungewöhnliches wahrgenommen?“
Aikos Miene blieb hart. Doch innerlich zog sich etwas zusammen. Wie ein Nebel, der aufstieg, ein alter Schatten, der sich zurückschlich. Druck. Kälte. Eine Vorahnung.
Sie erwiderte Danzōs Blick ohne zu zucken.
„Nein. Keine anomalen Chakraquellen. Keine Auffälligkeiten im Verhalten der Zielpersonen. Keine ungewöhnlichen Bewegungen auf dem Markt oder bei den Kontaktleuten. Alles wurde protokolliert.“
Homura legte ein versiegeltes Pergament auf den Tisch. Rotes Siegel. Der Inhalt war brisant.
„Was war eure letzte gesicherte Information von außerhalb, bevor ihr aufgebrochen seid?“
Genma lehnte sich leicht nach vorn, das Senbon zwischen zwei Fingern drehend.
„Briefing durch Shikaku. Verstärkte Bewegungen an der Windgrenze. Keine konkreten Bedrohungen. Keine Sonderanweisungen.“
Koharu hob eine Augenbraue, dann wandte sie sich direkt an Genma.
„Und du, Shiranui. Kannst du mit Sicherheit ausschließen, dass deine Partnerin in dieser Zeit Kontakt zu irgendwem aufgenommen hat?“
Genma blinzelte, die Augen wurden schmaler.
„Sie war keine Minute allein. Selbst beim Schlafen war der Abstand kleiner als eine Kunai-Spannweite. Wenn sie mit jemandem gesprochen hätte, hätte ich es bemerkt.“
Danzō trat noch einen Schritt näher.
„Und würdest du für sie bürgen? Mit deinem Rang? Deiner Loyalität?“
Ein Moment der Stille. Genma sah ihn an, das Senbon ruhte. Kein Spiel mehr.
„Ich bürge dafür, dass Aiko Uchiha jede Anweisung befolgt hat, die uns gegeben wurde. Ohne Abweichung. Ohne Zweifel.“
Danzō schnaubte leise, wandte sich wieder Aiko zu. Nun war der Fokus vollständig auf sie gerichtet.
„Du trägst das Blut der Uchiha. Aber wir wissen auch von deiner Senju-Abstammung. Und doch hast du dich nie offen für eine Seite ausgesprochen.“
Aikos Stimme war jetzt eine Spur schärfer.
„Weil Loyalität für mich nicht mit dem Namen kommt. Sondern mit der Entscheidung, die ich treffe.“
Koharu trat nun ebenfalls näher, die Finger aneinandergelegt.
„Dann beantworte uns Folgendes, Aiko Uchiha:
Würdest du im Zweifelsfall gegen deinen eigenen Clan handeln, wenn das Dorf es verlangt?“
Ein Kältestrom durchlief den Raum. Selbst Genma spürte, wie sich etwas verschob.
Aikos Augen ruhten still auf den Ältesten. Keine Regung im Gesicht. Aber ihre Stimme war ruhig. Fest.
„Wenn das Dorf Gerechtigkeit verlangt. Ja.“
Danzō nickte. Fast unmerklich. Doch es war kein Zeichen des Vertrauens. Sondern nur ein weiteres Häkchen auf seiner Liste.
Und trotzdem, sie spürte es: Der Schatten war nicht gewichen. Nur verschoben.
Aiko hob langsam den Kopf, die Augen glitten von einem Gesicht zum anderen. Ihre Stimme war nicht laut, aber sie schnitt durch die angespannte Luft wie eine Klinge.
„Wenn ihr etwas zu sagen habt,“ sagte sie, „sagt es direkt.“
Koharu zögerte keinen Augenblick.
„Shisui Uchiha ist tot.“
Stille. Vollkommene Stille.
Nicht einmal das leise Rascheln des Papiers auf dem Tisch. Kein Atem, kein Husten. Nichts.
Aikos Rücken blieb gerade. Ihre Schultern unbewegt. Kein Zucken. Kein Laut. Doch ihre Atmung stockte für einen Bruchteil einer Sekunde. So kurz, dass niemand es bemerkte.
Niemand – außer Genma.
Er sah, wie ihr Blick für den Bruchteil eines Herzschlags leer wurde. Wie sich etwas in ihr verzog, das sofort wieder verschwand. Eine Regung, die tief saß. Begraben unter all dem, was ein Ninja nicht zeigen durfte.
Homura sprach weiter.
„Und in eurer Abwesenheit hat Itachi Uchiha... seinen Clan ausgelöscht.“
Aikos Stimme kam wie aus der Tiefe. Erst leise. Dann scharf.
„Was?“
Danzō trat einen halben Schritt vor.
„Du warst mit einem der Uchiha-Blutlinie tief verknüpft. Du besitzt Techniken, die dein Clan nie offenbart hat. Und ausgerechnet du warst nicht da, als es geschah.“
Ihr Blick war wie festgefroren. Aber innerlich bebte alles. Ihre Gedanken rasten. Bilder, Erinnerungen, Gerüche, Stimmen, alles stürzte auf sie ein. Shisuis Stimme. Sein Lächeln. Die Wärme in seiner Nähe. Und jetzt... nichts.
Der Clan. Ihre Familie. Ihr Blut. Ausgelöscht.
Aber sie war ein Ninja. Und sie hatte gelernt, wie man Schmerz unsichtbar machte.
Sie atmete aus. Langsam. Leise.
Dann sprach Genma.
Seine Stimme war lauter als zuvor. Schneidend. Wütend.
„Jetzt reicht's.“
Alle Köpfe drehten sich zu ihm. Doch Genma lehnte sich nicht zurück. Er blieb nach vorn gebeugt, das Senbon lag ungenutzt auf dem Tisch.
„Ich war mit ihr. Jede verdammte Stunde zusammen. Sie hat mit mir gegessen, gekämpft, geschlafen, geschnarcht.“
Aiko blinzelte. Ein kurzer, empörter Blick. Doch sie sagte nichts.
„Was ihr gerade tut,“ fuhr Genma fort, „ist der Versuch, eine Lücke mit einem Namen zu füllen. Und dafür benutzt ihr sie.“
Danzō verzog den Mund zu einem Schatten eines Lächelns.
„Deine Loyalität ist bemerkenswert. Aber fehlgeleitet.“
„Nein,“ konterte Genma, „nur besser begründet als eure Paranoia.“
Der Schlag saß. Selbst Koharu sagte nichts.
Dann hob Sarutobi die Hand. Ruhig. Entschieden. Die Bewegung war klein, doch sie schnitt das Wortgefecht ab wie ein Meister das Seil eines Glockenschlags.
„Das reicht für heute,“ sagte er leise.
Doch die Luft im Raum war schwer. Und das, was nicht gesagt wurde, blieb wie Rauch zwischen ihnen zurück.
Sie verließen das Gebäude schweigend. Nicht einmal die Schritte hallten auf dem Vorplatz. Nur der Wind streifte durch die Bäume, als wolle auch er nichts sagen.
Aiko blieb stehen. Ihre Stiefel auf dem steinernen Weg, der Blick starr nach vorn gerichtet. Ihre Hände waren zu Fäusten geballt, so fest, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten.
Genma trat neben sie, seine Stimme war kaum mehr als ein Hauch.
„Sag was. Irgendwas.“
Aiko sprach. Leise, tonlos. Wie ein Gedanke, der durch ein Riss in der Seele drang.
„Ich wusste, dass etwas nicht stimmt. Ich hab es gespürt, als wir die Stadt betreten haben. Aber… nicht das.“
Genma senkte kurz den Blick, dann wieder zu ihr.
„Du hattest damit nichts zu tun. Und ich werde das wieder sagen, wenn ich muss. Vor jedem von ihnen.“
Aiko drehte sich zu ihm. Ihr Blick war hart, unnachgiebig. Aber ihr Gesicht war blass. Blasser als er es je gesehen hatte. Nicht vor Wut. Nicht vor Zorn. Sondern vor dem, was unter all dem lag: Verlust.
„Wenn ich mit dir auf dieser Mission war… dann war ich nicht da, um ihn, um sie alle zu retten.“
Genma sagte nichts. Keine Widerworte. Keine spitze Bemerkung. Nur ein paar Schritte, die er voranging, ehe er sich wieder zu ihr umdrehte.
„Dann sei froh, dass du bei mir warst.“
Sie war nicht sicher, was sie erwartet hatte.
Vielleicht einen Soldaten an der Grenze. Vielleicht misstrauische Blicke. Vielleicht... ein Zeichen, dass sie nicht willkommen war.
Aber was sie fand, war schlimmer.
Stille.
Aiko ging mit langsamen Schritten durch das verlassene Tor zum Uchiha-Viertel. Ihre Finger lagen locker an der Seite, doch jeder Muskel in ihrem Körper stand unter Strom. Ihr Blick war gerade, aber ohne Ziel. Wie jemand, der zwar weiß, wo er ist, aber nicht, wie.
Genma ging neben ihr leise, aber bestimmt.
Das Viertel war... tot.
Nicht zerstört. Nicht verbrannt. Nur erstarrt.
Fensterläden halb geöffnet. Ein Stuhl auf einem Balkon, umgekippt. Ein Windspiel, das sachte im Wind drehte, aber keinen Ton mehr hatte. Als hätte jemand das Leben angehalten.
Ein Lächeln, eingefroren in der Luft, das nie wieder zurückkehren würde.
Sie ging weiter. Ihre Schritte wurden schneller. Vorbei an vertrauten Mauern. Der Weg, den sie als Kind jeden Morgen gegangen war. Der kleine Brunnen, an dem sie Wasser geschöpft hatte.
Sie bog um eine Ecke, dort, wo das Haus ihres Onkels war. Dann das ihres Cousins.
Überall das Gleiche.
Türen offen. Manche geschlossen. Aber keine Stimmen. Keine Chakrasignaturen. Nichts.
Sie blieb stehen. Starrte auf einen kleinen Holzschrein vor einem Haus. Die Blumen darin verwelkt. Das Wasser in der Opferschale verdunstet.
Genma sprach leise hinter ihr.
„Aiko…“
„Nicht,“ unterbrach sie ihn.
Ihre Stimme war scharf. Aber nicht gegen ihn. Sondern gegen das, was in ihr wütete. Es schnitt durch etwas, das sie noch zusammenhalten wollte.
Sie ging weiter. Genma folgte. Ein paar Schritte. Dann blieb sie abrupt stehen. Vor dem Haus ihrer Eltern.
Die Tür stand halb offen.
Sie starrte sie an. Sekundenlang. Minutenlang. Ihr Blick rührte sich nicht. Aber ihre Stimme kam, brüchig, kaum hörbar:
„Sie... waren nicht mal wichtig genug, die Tür zu schließen.“
Genma machte einen Schritt auf sie zu. Doch bevor er etwas sagen konnte, drehte sie sich zu ihm um. Langsam. Mit einem Ausdruck im Gesicht, den er sonst nur in der Hitze eines Kampfes gesehen hatte. Hart. Abgegrenzt. Und zugleich: verloren.
„Geh,“ sagte sie.
„Aiko…“
„Ich meine es ernst, Genma. Geh. Ich will das nicht… mit dir sehen.“
Ihre Stimme bebte. Nur ein Hauch. Aber genug, um alles zu sagen.
Es war kein Zorn. Nicht gegen ihn. Nur Schmerz. Und das unbändige Bedürfnis, ihn nicht zu zeigen.
Genma hielt ihren Blick. Lang. Ernst. Dann senkte er leicht den Kopf.
„Ich bin nicht weit,“ sagte er leise.
Dann drehte er sich um. Und ging.
Aiko stand allein vor dem Haus, das einmal Zuhause gewesen war.
Und jetzt nur noch... eine Erinnerung.
Aiko saß im Haus ihrer Familie, allein auf dem Boden.
Kein Feuer, keine Kerze – nur das matte Licht des Mondes, das durch das halboffene Fenster fiel und die Schatten der zerbrochenen Vergangenheit über die Dielen warf. Der Raum war still, zu still. Die Art von Stille, die nicht beruhigte, sondern schrie.
Sie hatte stundenlang dort gesessen. Irgendwann hatte sie bemerkt, dass sie zitterte, aber sie wusste nicht, ob es an der Kälte lag oder an etwas Tieferem. Etwas, das kein Mantel wärmen konnte.
Ihre Hände lagen in ihrem Schoß. Leer. Nutzlos.
Vor ihr lag ein altes Bild. Die Ecken eingerissen, das Papier vergilbt.
Shisui.
Lächelnd. Lebendig.
Und nun tot.
Und sie hatte es nicht gespürt.
Nicht gesehen. Nicht geahnt.
Sie war nicht da gewesen.
Nicht, um ihn aufzuhalten. Nicht, um ihn zu retten. Nicht einmal, um sich zu verabschieden.
Ihr Kopf war leer.
Und gleichzeitig zu voll. Gedanken überlagerten sich, wie zu viele Stimmen in einem kleinen Raum.
Sie hatte versucht, daran zu denken, was er gesagt hätte.
„Du bist mehr als dein Name, Aiko.“
„Wenn du dich nicht erinnern kannst, wie man weitergeht, steh einfach auf und warte. Irgendwann spürst du es.“
Aber sie spürte nichts.
Nur den Nebel in sich selbst. Träge, kalt, grau. Wie Watte zwischen Herz und Welt.
Und schlimmer noch: die Schuld.
Sie dachte an die Tage mit Genma.
An das Lachen. An die Neckereien. An das plötzliche Gefühl von Sicherheit, das er in ihr ausgelöst hatte. Dieses absurde, kostbare Empfinden von Frieden. Während hier... jeder starb.
Wie konnte sie es zulassen, sich wohlzufühlen?
Wie konnte sie sich ablenken lassen, während ihre Familie ausradiert wurde?
Wie konnte sie sich erinnern, wie warm seine Stimme war und nicht, wie kalt Shisuis fehlen sich anfühlte?
Ein leises Zittern ging durch sie hindurch.
Und plötzlich wurde der Raum zu eng.
Das Haus zu laut in seiner Stille.
Der Boden zu schwer unter ihren Füßen.
Sie stand auf. Unentschlossen. Dann entschlossen. Jeder Muskel war angespannt, jede Bewegung zu schnell.
Sie wusste nicht, wohin genau.
Aber sie wusste, wohin sie nicht konnte: hierbleiben.
Also ging sie. Dorthin, wo alles in ihr hinwollte.
Nur ein Ort kam in Frage.
Aiko stand vor der Tür von Genmas Wohnung.
Ihre Schultern waren gesenkt, die Hände hingen schlaff an den Seiten, die Finger leicht eingerollt, als wäre selbst Bewegung zu viel.
Sie hatte lange dagestanden. Minuten. Vielleicht länger. Der Mond hatte sich ein Stück weiterbewegt, der Nachtwind war kälter geworden. Und noch immer hatte sie nicht geklingelt.
Dann hob sie die Hand. Zögerlich. Unsicher.
Einmal.
Dann noch einmal.
Drinnen
Genma blinzelte im Halbschlaf. Das leise Summen des Klingelzeichens war kein Alarm, kein Notfall. Aber genug, um ihn sofort zu wecken. Er richtete sich auf, fuhr sich über die Stirn. Der Raum war dämmerig, warm vom Atem der Nacht.
Keine Gefahr.
Keine Bedrohung.
Er wusste, wer es war.
Er wusste es, noch bevor er sie sah.
Mit ruhigen Bewegungen stand er auf. Barfuß. Das Senbon nahm er vom Nachttisch, nicht aus Misstrauen, sondern aus Gewohnheit.
Er öffnete langsam die Tür.
Sie stand da, kaum mehr als ein Schatten. Der Stoff ihrer Kapuze bewegte sich im Wind, das Gesicht im Halbdunkel verborgen. Aber er sah genug.
Das war nicht Aiko.
Nicht die Kunoichi mit den kühlen Blicken und der scharfen Zunge. Nicht die Kriegerin, die mit Holzspiegeln und Genjutsu tödliche Präzision ausübte.
Das hier war eine andere Aiko.
Genma sprach leise, vorsichtig, als wäre jedes Wort ein Drahtseil.
„Was ist passiert?“
Aiko hob langsam den Kopf. Ihre Augen waren gerötet, der Blick leer, aber nicht kalt.
„Ich kann... nicht schlafen,“ sagte sie.
Tonlos. Nicht wie jemand, der eine banale Nachtstörung beklagt.
Sondern wie jemand, der versucht, nicht „Ich bin am Ende“ sagen zu müssen.
Genma sah die Schatten unter ihren Augen. Den roten Rand ihrer Lider. Das unruhige Atmen, das sie zu verbergen versuchte.
Er machte die Tür weiter auf.
„Komm rein.“
Sie zögerte. Einen Moment. Als wäre der Schritt über die Schwelle der größere als jeder, den sie je auf dem Schlachtfeld getan hatte.
Dann trat sie ein.
Die Wohnung war klein, aber ordentlich. Ein Futon, ein niedriger Tisch, ein paar Bücher und Missionsakten, die in Stapeln neben der Wand lagen. Kein Luxus. Nur Struktur. Alles an seinem Platz, als wäre Ordnung das Einzige, was Genma wirklich festhalten konnte.
Er schob sich ein frisches T-Shirt über, reichte Aiko wortlos eine Decke und ging zur kleinen Küchenzeile. Die Bewegung war ruhig, fast rituell. Er goss Wasser in einen Topf, stellte ihn auf den kleinen Gaskocher.
Aiko blieb im Eingangsbereich stehen, als wäre sie noch nicht sicher, ob sie wirklich hier war. Dann setzte sie sich langsam auf den Boden, zog die Beine an den Körper und wickelte sich in die Decke.
„Du musst nicht wach bleiben,“ sagte sie leise.
Genma drehte sich nicht um.
„Ich war schon wach. Hab nur gelegen.“
Er nahm zwei Becher aus dem Schrank, goss das heiße Wasser hinein, reichte ihr einen.
Sie nahm ihn. Sagte nichts. Die Wärme der Keramik war das Einzige, das sie in diesem Moment fühlen konnte.
Nach einer langen Pause sagte sie:
„Ich hab versucht, es zu verstehen. Stundenlang. Ich dachte, wenn ich mich zwinge, rational zu denken, verschwindet dieses… Loch.“
„Und?“
„Es wurde größer.“
Er nickte nur. Setzte sich neben sie. Nicht zu nah. Nur so, dass sie ihn spüren konnte. Kein Mitleid. Kein „Es tut mir leid“. Nur Anwesenheit. Stille, die nicht leer war.
„Sie waren einfach... weg,“ flüsterte sie.
Sie blickte geradeaus. Ihre Stimme wackelte nicht. Aber ihr Atem schon.
„Shisui. Meine Familie. Alles. Ich war zu spät. Ich war einfach nicht da.“
„Und ich bin froh, dass du bei mir warst,“ sagte Genma leise.
Sie sah ihn an. Erschrocken. Nicht weil er es sagte. Sondern weil es sie traf.
„Warum?“
„Weil ich nicht will, dass du mit ihnen da drin gelegen hättest.“
Sie sagte nichts mehr. Ihre Hand, die noch immer den Becher hielt, zitterte leicht. Dann stellte sie ihn ab. Langsam. Vorsichtig. Und blieb einfach sitzen. Neben ihm.
Genma sagte eine Weile nichts. Er beobachtete den Schatten der Decke, der sich durch das Licht des Fensters über ihren Rücken legte.
Dann, sanft:
„Du kannst hierbleiben. Schlaf, oder nicht.“
Aiko nickte nur. Kaum sichtbar.
Die Nacht verging langsam. Wie Wasser, das durch kaltes Gestein tropfte.
Aiko stand irgendwann mitten im Raum und betrachtete den Futon.
Einen.
Nur einen.
Genma bemerkte ihren Blick und verzog leicht den Mund.
„Tja,“ sagte er mit einem Hauch gespieltem Bedauern, „ich bin halt kein Palastwächter. Luxus endet hier bei einem sauberen Futon und warmem Wasser.“
Aiko zog eine Augenbraue hoch.
„Und wie löst du das sonst? Wechselnde Seiten oder wechselnde Gäste?“
„Wechselnde Haltungen,“ murmelte er und schob sich ein Kissen zurecht. „Mach's dir bequem. Ich schnarche nach Osten, falls das hilft.“
„Dann schlaf auf dem Balkon.“
„Zu kalt. Außerdem: Du hast geklingelt. Du kriegst, was da ist.“
Aiko seufzte. Kurz. Dann setzte sie sich. Langsam. Nicht ganz am Rand, aber weit genug, dass sie ihn nicht aus Versehen berührte.
„Wenn du mir näher rückst, stirbst du.“
„Und wenn du mir die Decke klaust, auch.“
Ein kurzer Blickwechsel. Kein Lächeln. Aber eine Andeutung.
Minuten später lagen sie beide auf dem selben Futon. Rücken an Rücken. Die Luft zwischen ihnen war warm vom Atem, doch kein Körperkontakt. Nur das Bewusstsein, dass der andere da war.
Aiko bewegte sich kaum. Nicht weil sie schlief, sondern weil es das Einzige war, das sich nicht falsch anfühlte.
Genma lag wach. Die Augen halb geschlossen. Er hörte ihren Atem. Still. Nicht ruhig, aber gleichmäßig genug, dass er wusste: Sie war da. Und das reichte für jetzt.
Irgendwann zwischen Mitternacht und dem Frühlicht drehte sie sich leicht zur Seite. Nicht nah. Aber sichtbar.
„Genma?“
„Hm?“
„Wenn ich morgen aufwache und es ist immer noch wahr... dann musst du mir was versprechen.“
Er drehte leicht den Kopf zu ihr.
„Was?“
„Sag nichts Dummes. Kein Spruch.“
Er sah sie an. Und diesmal grinste er nicht. Kein Kommentar. Nur ein kurzes, ehrliches Nicken.
„Okay.“
Dann, zum ersten Mal, schloss Aiko die Augen. Nicht, weil sie schlafen wollte. Sondern weil sie es konnte.
Und Genma lag da. Wach. Leise. Und hielt sein Wort.
Aiko öffnete die Augen.
Der Futon, der nicht ihrer war, war erstaunlich bequem. Oder vielleicht war es einfach nur der Umstand, nicht allein gewesen zu sein. Die Decke war verrutscht, ein Teil ihres Arms lag frei, aber sie fröstelte nicht.
Die Nacht war leise gewesen. Keine Alpträume. Keine Gedanken, die sie zerrissen hatten. Nur... Ruhe. Für ein paar Stunden. Und das allein war mehr, als sie erwartet hatte.
Sie richtete sich langsam auf. Ihre Haare fielen ihr ins Gesicht, das Stirnband hatte sie irgendwann abgelegt. Es lag gefaltet am Rand des Futons. Sie blinzelte ins Licht, das durch die halbgeöffnete Fensterluke fiel, warm und unbeachtet.
Dann sah sie sich um.
Genma saß bereits am niedrigen Tisch. Halb angezogen, ein Stück Brot im Mund, den Blick auf eine geöffnete Missionsrolle gerichtet. Er sah auf, als sie sich bewegte.
„Du schnarchst nicht. Enttäuschend,“ sagte er kauend.
Aiko hob eine Augenbraue.
„Und du wachst früh auf, obwohl du nichts Wichtiges zu tun hast. Auch enttäuschend.“
Er grinste. Stand langsam auf, streckte sich, als sei die Nacht auch für ihn nicht spurlos vergangen.
„Du hast geschlafen wie jemand, der sich das nicht eingestehen wird,“ bemerkte er.
„Ich hab nur aus Höflichkeit die Augen zugemacht,“ erwiderte sie trocken.
Sie stand nun ebenfalls, richtete ihr Oberteil, schnürte das Stirnband wieder um den Hals. Ihre Bewegungen waren ruhig. Geübt. Aber auch... leichter.
Dann, nach einem Moment, ohne ihn anzusehen:
„Trotzdem... danke.“
Genma spielte das Senbon zwischen den Lippen.
„Was genau meinst du? Dass ich dir die Tür aufgemacht hab, oder dass ich nicht versucht hab, tiefgründige Gespräche anzufangen?“
„Beides. Und dass du nichts gesagt hast, als ich fast auf deinem Teppich geheult hätte.“
„Das war kein Teppich. War meine Ersatzjacke.“
Sie sah ihn an, skeptisch. Dann schnaubte sie leise, fast ein Lachen, aber eben nur fast.
„Ich verschwinde jetzt, bevor du glaubst, ich bleib öfter über Nacht.“
„Mach dir keine Sorgen.“
Sie öffnete die Tür, trat hinaus in den Morgen, blieb aber kurz im Rahmen stehen. Sah zurück. Nicht lange. Nur ein Herzschlag lang.
„Trotz allem – war's nicht schlimm,“ sagte sie leise.
Genmas Blick halb schalkhaft, halb wachsam.
„Du meinst, ich war nicht schlimm.“
„Red dir das ruhig ein,“ murmelte sie und drehte sich weg.
Und dann war sie weg.
Wie immer, schnell, bestimmt, mit hochgezogener Mauer.
Aber die Nacht hatte etwas verschoben.
Verpackt in Spott. Getragen von Stille.
Und vielleicht war genau das ihr Weg zu sagen: Danke, dass du da warst.